Christchurch ist eine verwundete Stadt. Nach dem Erdbeben von 2012, das 185 Menschen das Leben kostete, war die Innenstadt für Monate komplett gesperrt, und wurde erst nach und nach wieder zugänglich gemacht. Doch die alte Innenstadt war fast vollständig verschwunden.
„Ich wundere mich immer noch, dass man von hier aus jetzt die Berge sehen kann“, hat Sue erzählt. Früher standen hier überall Häuser, die den Blick verdeckten. In den Monaten nach dem Erdbeben mussten 12.000 Gebäude abgerissen werden. Die Wunden sind Touristenattraktionen: Verlassene Gebäude mit zugenagelten Fenstern in den Erdgeschossen und aus leeren Fensterrahmen wehenden Stofffetzen in den oberen Etagen. Ruinen wie die Kathedrale, von massiven Stahlkonstruktionen gestützt, damit sie nicht weiter kollabieren, wie eine Wunde, die man notdürftig klammert, damit sie nicht weiter aufreißt. Streetart an nackten Wänden, wie die Unterschriften und kleinen Zeichnungen auf dem Gips an einem Kinderarm.
Neben den Wunden gibt es die Prothesen, Neubauten aus Stahl und Glas; plastische Chirurgie, die nicht wiederherstellen, sondern verbessern will, die sich mit Resten und Zitaten der alten Stadt schmückt, kleine Details, um sich wenigsten in ihnen von den Shopping- und Businessbezirken jeder anderen Innenstadt zu unterscheiden.
Es gibt diese Orte, vor allem im High Street Precinct, wo du nicht sagen kannst, in welcher Stadt, welchem Land, auf welchem Kontinent du bist, bis du zwischen den weltweit austauschbaren Modegeschäften und Cafés einen Shop mit Christchurch-Souvenirs findest. oft sind diese Orte seltsam leer, große, begehbare Architekturmodelle. Leblos, wie eine Prothese, ein Stück Plastik, wo einmal etwas Gewachsenes war. Hinter den Tresen der Boutiquen stehen Verkäuferinnen und starren auf ihre Smartphones, ab und zu hastet ein Mann mit weißem Businesshemd und einem Flat White to go vorbei, hallt das Klackern von Pfennigabsätzen durch die Passagen, lange bevor man die dazugehörige Frau sieht, laufen ein paar Bauarbeiter durchs Bild oder stehen ein paar Backpacker herum, den Blick zum Himmel gewandt, als würden sie dort das finden, weshalb sie um die halbe Welt gereist sind.
Ein Stück weiter geht es geschäftiger zu, aber es ist eine Simulation von Stadtleben. Touristen, Geschäftsleute, Arbeiter, Bettler, Menschen, die nach Büro- und Ladenschluss in die Vororte, die Hotels oder eine der neuen Bars verschwinden und Leere hinterlassen. Eine leergeräumte Stadtkulisse, in der niemand lebt.
„The vision calls for a unique urban fabric“, so klingt das in einer Broschüre der Stadt. „[…] within a high quality urban public realm. A place where like-minded urban innovators can work, live and play alongside one another to collaborate and create new possibilities.“
An high quality urban public realm for high quality people and like-minded urban-innovators – nicht für einfache Einwohner. Christchurch Central soll Innovationswerkstatt, Shoppingcenter, Attraktion sein, aber kein Zuhause.
Es ist die selbe Vision wie sie Stadtplaner, Lokalpolitiker, Investoren überall auf der Welt haben. Doch überall sonst wird die schöne Vision von starrköpfigen und schwer wegzubekommenden Bewohnern in Frage gestellt, die sich Modernisierungs- und Privatisierungsvorhaben entgegenstellen, ihre Wäsche zum Trocknen auf den Balkon hängen, mit Kinderwägen, Hunden und Rollatoren durch die Gegend trampeln und überhaupt das ganze schöne high quality urban realm durch ihr unordentliches Herumgelebe durcheinanderbringen.
All das, so stelle ich mir vor, muss es auch hier gegeben haben. Und dann kam das Erdbeben. Und mit ihm die einzigartige Gelegenheit ein ganzes Stadtzentrum von Grund auf neu zu gestalten, ohne auf altmodische, nostalgische, störrische Einwohner Rücksicht nehmen zu müssen.
Der „einzigartige urbane Stoff“, von dem die Broschüre spricht, wäre nicht einzigartig, sondern so austauschbar, wie das selbstverliebte Gebrabbel der Stadtplaner in der Broschüre selbst.
Und doch gibt es etwas in Christchurch, das einzigartig ist und wie ein Stoff oder Teppich, der große Teile der Innenstadt bedeckt: Schotter. Parkplätze aus Schotter. Die Narben von Wilson-City.
(In der Pfütze: Das alte Postgebäude, viele Jahre Heimat des Physics Room und für zweieinhalb Monate meine Heimat. Die Galerie muss wegen extrem gestiegener Mieten zum 1.2. ausziehen und Platz schaffen für like-minded urban innovators.)
Überall in Christchurch sind sie zu finden: Parkplätze, meist betrieben von Wilson-Parking, der, wie mir mehrfach versichert wurde, meistgehassten Firma. Triste Plätze, mit groben Steinen gedeckt, uneben, hässlich, grau. Anfangs habe ich sie gar nicht bewusst gesehen, ich sah Leere, ich sah den Himmel darüber, die Wand dahinter, vielleicht die Autos darauf. Etwas in mir wollte es nicht sehen, doch seit sie aufgefallen sind, lassen sie mich nicht mehr los. Jeder Parkplatz ist wie eine Narbe, auf die man nicht starren darf und will und doch immer wieder verstohlen drauf schaut. Und jede dieser Narben markiert einen Ort, an dem vor dem Beben ein Haus stand, das auf irgendeine Art mit Leben gefüllt war, eine Geschichte, die abrupt endete und irgendwo neu beginnen musste.
Parkplätze sind ene der schlimmsten Nebenwirkungen des Automobilzeitalters. Parkplätze entstellen Städte, wie Narben Körper entstellen. Parkplätze verwandeln öffentlichen Raum in Lagerfläche. Parkplätze sind gefühllos, wie Narbengewebe, das keine Berührung mehr spürt.
Christchurch Central ist die Stadt der Parkplätze und des Schotters.
Vielleicht sollte man es positiv sehe: Auch wenn es das nicht ist, was den Visionären vorschwebte: Es ist a unique urban fabric, das findet man so nirgends sonst auf der Welt. Die Parkplätze geben Christchurch Central den Blick auf die Berge zurück. Und sie eröffnen Möglichkeiten. Vielleicht wächst auf einigen von ihnen irgendwann etwas für die Menschen hier. Und nicht einfach nur das nächste Bürogebäude oder 7-stöckige Wilson-Parkhaus.
In 2 Tagen fliege ich zurück in meine Heimatstadt. Auch Berlin ist eine verwundete Stadt, fast zerstört im zweiten Weltkrieg, zerrissen im kalten Krieg, sich ständig selbst suchend, neu erfindend, krumm und schief zusammenwachsend seit dem Fall der Mauer. Und trotz sozialistischer Planwirtschaft und turbokapitalistiischer Gentrifizierung ist es doch immer ein Wachstumsprozess. Das Nachkriegsberlin wuchs auf den Trümmern und aus Ziegelsteinen des alten. Wenn es Berge gäbe um Berlin, würde man sie heute genausowenig sehen wie vor 100 Jahren. Trotz aller Zerstörung und allem Wandel sind die Orte der Kindheit noch da. Die letzten Wunden schließen sich, Prothesen und kosmetische Chirurgie sehen nach einem Jahr dreckig und abgenutzt aus, die Narben sind von Gras überwuchert … und jeder ist ständig und verzweifelt auf der Suche nach einem Parkplatz ….