Der Posteingang sah absolut unverdächtig aus. „Günther, Sie haben den Preis nicht abgeholt“ – Delete! „Gratis Produkttester bei Nivea werden“ – Delete! „Juergen, Du hast Rubbellos gewonnen“ – Delete! „Residenz Christchurch“ – Delete! „Neues iphone Geschenk“ – Delete! Moment … ich habe keine Ahnung, warum ich noch einmal im Papierkorb nachschaute. Aber es bewahrte die unglaublichste Mail des letzten Jahres vor dem Vergessen und mich vor einem grauen, kalten Winter in Berlin …
Unter dem Betreff „Residenz Christchurch“ erreichte mich eine Einladung des Goethe-Instituts Neuseeland und der Galerie „The Physics Room“ in Christchurch. Ob ich mir vorstellen könne, Ende des Jahres zwei bis drei Monate als Artist in Residence in Christchurch zu verbringen.
Verdammte Axt! Nach einem kurzen Moment der ungläubigen Freude, begann ich, nach dem Haken zu suchen. Sollte ich irgendwohin 500 Euro überweisen, um die Unterlagen zugeschickt zu bekommen? Brauchten Sie meine Sparkassen-PIN und einen hochaufgelösten Scan meiner Unterschrift, um mein Visum zu beantragen? Ich konnte nichts derartiges finden, außerdem schien die Absenderadresse authentisch und die Mail war in bestem Deutsch abgefasst. Im nächsten Moment wurde mir klar, dass eine Spam-Mail die mit Abstand bessere Alternative war …
Denn wenn ich wirklich eingeladen wäre, um die Welt zu fliegen, ins Traumland Neuseeland, um dort fast ein Vierteljahr zu leben und zu arbeiten … dann müsste ich nun eine der traurigsten und schwierigsten Emails meine Lebens schreiben: „Danke … große Ehre und Freude … leider … absagen … danke nochmals, ich hoffe, Sie finden schnell jemand anders. Mit freundlichen Grüßen und tränenüberströmt …“
Denn natürlich kann ich nicht für 10, 11 Wochen von zuhause weg, von der Freundin und von der Tochter, die in dieser Zeit ihren ersten Geburtstag feiert, wahrscheinlich die ersten Schritte macht und vielleicht ihre ersten Worte spricht – und die sollten auf keinen Fall „Wo ist Papa?“ sein.
Zum Glück gibt es noch eine weitere Möglichkeit: Die Familie mitzunehmen. Um es kurz zu machen: Am 16.11.2017 fliegen wir zu dritt in den Süden, halb um die Erde, auf die andere Seite der Scheibenwelt, dorthin, wo dann gerade der Sommer ausbricht. Nachdem der Vertrag unterschrieben ist, mein Ticket erstattet wurde (Frau und Kind fliegen auf eigene Rechnung) und die ganze Wohnung einer sehr sauberen Müllhalde gleicht, die nach und nach abgetragen und in riesige Koffer umgefüllt wird, gehe ich inzwischen davon aus, dass es sich tatsächlich weder um ein Missverständnis, noch um einen sehr komplizierten Scherz handelt, dessen Pointe ich nicht verstehe. In drei Tagen geht es los …
(Heute noch eine schöne Portion Berliner Herbst abgeholt. Und Berliner Pampigkeit. War bei Netto offensichtlich im Angebot. Mit der Pampigkeit ists ja wie mit dem Graubrot: Das kriegen nur wir Deutsche hin.)
Was mich bzw. uns dort erwartet, weiß ich nicht. Eine spannende Zeit natürlich. Viele Begegnungen mit Menschen, Künstlern und „normalen“ (was immer „normal“ in Neuseeland bedeuten mag), ein Einblick in eine Stadt, die nach dem schweren Erdbeben von 2011 ihren Weg sucht zwischen Wieder- und Neuaufbau, Reisen durch ein Land, von dem es heißt, dass man nie wieder zurückwolle, wenn man einmal dagewesen sei. Viele, viele Überraschungen.
Eine Frage quält mich, seit ich im April die Einladungsmail aus dem Papierkorb rettete: Wieviele Hollywoodanfragen, wieviele Einladungen in die Antarktis und auf die ISS, wieviele geschenkte iPhones und Rubbellose habe ich in den letzten Jahren übersehen, schnöde ignoriert oder zu unrecht gelöscht?
(Ach, Berlin, du wirst mir fehlen! Aber … ich schaff das … ich lass dich hier zurück – allein kannst du es schaffen.)